Karl Kraus Serie 150 Jahre
In Schriften wie "Sittlichkeit und Kriminalität" (1902) verwahrte sich Karl Kraus gegen die Erfordernisse einer Doppelmoral, die aus Frauen Dirnen, diese dann aber verächtlich macht.
Archiv Setzer-Tschiedel / brands

Das Eindringen des Gesetzgebers ins "ewige Reich der sinnlichen Triebe" (Karl Kraus) kann unstatthaft sein. Setzt es doch ausgerechnet diejenigen, die in besonderer Weise schutzbedürftig sind, in hochnotpeinliche Verlegenheit.

Etwa von 1902 an verwendete Kraus seine ganze satirische Kraft auf den Erweis eines empörenden Missstandes: Die Sorge, die der k. u. k. Staat auf die Ahndung irgendwelcher Ehevergehen wendet, unterscheidet sich in nichts von Heuchelei. Richter und ihre Zuträger betragen sich aus schierer Anmaßung beichtväterlich.

Sie belauschen, was sich innerhalb der vier Wände – aus Anlass von Paarungsgepflogenheiten, die niemanden etwas angehen – zuträgt. Also stecken sie den Wänden Ohren auf. Prompt meinen sie zu hören, was die Lauschorgane aus Gründen der Borniertheit erröten lassen muss.

Karl Kraus' folgenreicher Aufsatz Sittlichkeit und Kriminalität bildete bloß den Auftakt einer Kampagne, die der Herausgeber der Fackel während der Nullerjahre des 20. Jahrhunderts gegen die Gesellschaft als solche führte, mit dem Ingrimm des Sprachmaschinisten: "Alles verzeihen die Sittenrichter den Raben und peinigen die Tauben."

Denn selbst honorige Menschen finden nicht das Geringste dabei, ihre Intimitäten wohlfeil zu Markte zu tragen. Sie verkaufen den "Skandal" eines Ehebruchs, die Not einer "gefallenen" Frau, zum Beispiel an das meistbietende Presseorgan.

Zudringliche Justiz

Der Gesetzgeber begnügt sich nicht damit, Vergewaltigung zu strafen, Unmündige und die Gesundheit zu schützen. Im Gegenteil, die Zudringlichkeit der Justiz fördert und mästet die Unmoral: Sie produziert ohne Unterlass Missetäter, die keine zu sein bräuchten. Sie begünstigt häusliches Denunziantentum.

Vor allem aber inspiriert sie, durch Entblößung der "Untat" vor der Öffentlichkeit, die Abhaltung peinlicher Sensationsschauspiele. Richter amüsieren sich königlich, wissend, ihr Tun findet Eingang in viel zu lange Zeitungsspalten. Sie meinen, Proben weiblicher Schande, die keine zu sein bräuchte, dem Gewieher windiger Presseleute preisgeben zu müssen.

ÖNB

Abgehalten werden solche Unlustspiele einzig und allein auf Kosten der Frauen. In der Zeitungsglosse Die Hetzjagd auf das Weib zitiert Kraus das Inserat einer englischen Zeitung, in dem eine wohlanständige Familie sich sehr beflissen um die Dienste einer Gouvernante bemüht. Gesucht werde "eine wirklich hässliche, aber erfahrene und tüchtige" Frau zur Beaufsichtigung dreier Mädchen. Voraussetzung: "Körperliche Schönheit nicht gewünscht". Begründung: "da der Vater viel zu Hause ist und außerdem erwachsene Söhne vorhanden sind".

Einfältige Doktrin

Die bürgerliche Gemahlin trägt, weil der Papierform nach wohlversorgt, die Hauptlast des Arrangements. In einem solchen ist das Delikt moralischer Verfehlung einzig und allein auf ihrer Seite möglich. Verlogenheit wird zur Norm erhoben. Kraus schreibt: "Der Typus der Frau, die zwar zu schön ist, um treu, aber auch zu gesetzeskundig, um untreu zu sein, lebt nur in einer einfältigen Doktrin."

Zum Wesen einer solchen Schattenwirtschaft gehört die Entsorgung von Idealen: Diese stellt man, zur Wahrung des falschen Anscheins, in die Obhut der Justiz. Kraus weiß die Stellung der Frau in seiner Zeit recht exakt zu bestimmen: Sie bildet die Zwischenstufe zwischen Arbeitstier und Lustobjekt. Gilt die Geldheirat als erstrebenswert, verdient die Geldbegattung nichts als Verächtlichkeit.

Am Ende langen auf irgendwelchen Polizeikommissariaten anonyme Anzeigen ein. Von ihnen betroffen sind zum Beispiel junge, hübsche Schauspielerinnen, die allein wohnen, die man deshalb dem Verdacht "gewerbsmäßiger Unzucht" aussetzt. Allenthalben verwechselt wird dabei die Fortpflanzung mit dem Geschäft, das sich mit ihr machen lässt. Nichts darf an die Fassade schnöder Männermoral rühren.

Oder, wie Karl Kraus fragt: "... sollten am Ende die Sexualrichter ihr Dasein der Paarung eines Paragrafen mit einer Gesetzesnovelle zu verdanken haben?" (Ronald Pohl, 3.5.2024)